Die Roma-Sängerin mit der toten Katze

Irina und Gadjos entführten ihr Publikum im Saal der Oberen Mühle Dübendorf in eine andere Welt

Mitgerissen von Irina und Gadjos feierten Menschen an einem imaginären Feuer ein Fest der Gefühle, wo sich die Freude im Klat­schen, Tanzen, Stampfen und Mitsingen ausdrückte. So versanken am Samstagabend im Saal der Oberen Mühle in Dübendorf für zwei Stunden Zeit und Raum. Dem Aufwachen folgte frenetischer Applaus.

Feurige Rhythmen und stimmungsvolle Balladen liessen am Samstagabend die Menschen im Saal unter dem Dach der Oberen Mühle in Dübendorf vergessen, wo sie waren. Die Formation Irina und Gadjos fesselte ihr Publikum mit Virtuosität und Bühnenpräsenz. Das Temperament der Fahrenden war in jedem Augen blick spür- und erblickbar - grosse glänzende Kreolen unter schwarzer Mähne, Augen wie blaue Edelsteine die vor Lebenslust sprühen und dann: Eine Stimme dunkel, rauh, warm, voluminös, die bei geschlossenen Augen an grosse schwarze Künstlerinnen erinnert. Das ist Irina. Auch ohne Mikrofon hätte die zierliche, 158 Zentimeter kleine, ganz in rot gekleidete Sängerin mit ihrer Stimme die Räumlichkeiten vom Samstagabend zu füllen vermocht.

Niemand stiehlt dem anderen die Show

Immer ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen versteht es «Fiddler» und Rhythmusgitarrist Christoph Habegger seiner Geige - ob mit Bogen oder gezupft - all die herrlichen Klänge vom Weinen der Seele, dem Zwitschern eines Vögelchens oder überschäumendes Temperament zu entlocken. Mit der Gitarre wie bei «Cabaret» von Louis Armstrong, demonstriert er auch die Liebe zu diesem Instrument. Überzeugend war aber auch der Auf­tritt von Jüre (Jürg) Walter: Sei es nun sein Akkordeon, der Flügel neben der Bühne oder der dickbauchige Bass, Jüre Walter verschmilzt mit jedem dieser Instrumente und prägt die charakteristischen Lieder zusammen mit Christoph Habegger auf eigene Weise. So sind bei Irina und Gadjos drei hervorragende Fähigkeiten vereint, wo keine der anderen die Show stiehlt.

Die tote Katze ist fast immer dabei

Abwechslungsreich werden die Zuhörenden mit traditionellem Liedgut der Fahrenden ans imaginäre Lagerfeuer gelockt oder mit Swing im Stile des Gitarristen Django Reinhardt (Sinto-Jazz) oder Jazz und Blues in einen Keller nach New Orleans versetzt. Dabei spielt die Sprache keine Rolle, ob in Romanes, der Sprache der Fahrenden, Russisch, Ungarisch, Italienisch, Englisch und für Klezmer in Jiddisch - Irinas Sprachgewandtheit und Temperament kennt keine Grenzen. Dabei besitzt sie die Fähigkeit, traurige Balladen von Liebenden, die nicht zusammenkommen, so herzergreifend zu singen, dass die Zuhörenden mitleiden.
Lustige Einlagen, wie das Trocknen von Habeggers Glatze mit einem Tuch kommentiert sie mit: «Ich mache diesen übrigens ein reines Berndeutsch zu hören - erzählt sie auch fingierte Geschichten über ihre Grossmutter in Russland. Und Muschka, ihre tote Katze in Handtaschenform, gehöre zu jedem Konzert, meinte Irina weiter. Ausser am vergangenen Samstag. Dann nämlich musste «Nora das Schlafschaf», eine Tasche mit weissem Fell, für den Spass herhalten. Dies, weil Muschka dummerweise doch zu Hause vergessen ging. Herzliches Lachen folgte den lustigen, mit lockerem, schauspielerischem Talent integrierten Einlagen.

«Ich bin berauscht, du bist berauscht»

Die vollkommene Hingabe des Publikums liess den Saal durch Klatschen, Mitsingen und mit den Füssen auf den Boden stampfen erbeben. Obwohl kaum Platz vorhanden, gelang es einigen sogar zu tanzen, wobei alle Gesichter von innen zu strahlen schienen. Dem letzten, humorvollen in Romanes und Russisch gesungenen Lied folgte frenetischer Applaus, Pfeifen und Zugaberufe. Und noch einmal bewiesen die drei zunächst einzeln und wieder vereint ihr gewaltiges Können. Nach knapp zwei Stunden hiess nicht nur das Lied «Ich bin berauscht, du bist berauscht» - auch das ganze Publikum war es. Die Veranstalter und der Oberen Mühle hatte den Geschmack des Publikums voll und ganz getroffen

Pulsierendes Blut Fahrender

Seit vier Jahren sind Irina und Gadjos nun auf Erfolgskurs und wohl bald kein Geheimtipp mehr. Vermutlich, weil die Lieder aus dem Innersten heraus gesungen und nicht einfach interpretiert werden. Die 1965 in Bern geborene Irina genoss Gesangsunterricht und sang in verschiedenen Formationen, besonders wohl fühlt sie sich aber mit «Musique Tzigane». Ihre Herkunft ist nicht ganz klar, sie ist aber überzeugt, dass das Blut Fahrender in ihr pulsiert. Bei jenen, die sie gesehen und gehört haben, besteht da kaum ein Zweifel.

Rosmarie Schmid
Anzeiger von Uster
Montag, 19. April 2004